Ich beginne ja mittlerweile meine Texte gerne mit Musik, also Gedanken zu Musik. Dieser Text startet auch wieder mit einem Lied, das ich seit vielen Jahren mag. Das für mich wichtig ist.
Peter Gabriels Album „Us“ war … nein … ist zuvorderst ein Album über Beziehungen, und so meint das Lied „Secret World“ wohl jenen Teil von Beziehungen, die sich der direkten Beobachtung entziehen. Über Dynamiken, die über die Zeit entstehen, und lenken, wo es hingeht.
In meinem weiteren Freudes- und Bekanntenkreis ist gerade viel los. Vieles entwickelt sich da in ganz unterschiedliche Richtungen, von Heirat bis Trennung ist da gerade alles dabei. Bei den einen denkt man “Na endlich”, bei den anderen “WTF?”. Alle sind von einem gemeinsamen Punkt gestartet, an dem sie sich gefunden haben. Und die Dynamiken der Beziehungen haben diesen ihren Weg gegeben und sie an momentanen oder auch finalen Endpunkte geführt.
Ich denke das Lied spricht eigentlich von der Innensicht. Ich denke das Lied spricht davon, was man über den Partner letztlich nicht alles weiss. Das manchmal nicht alles ausgesprochen ist. Selbst Gefühle nicht. Egal wie nahe man ist, es gibt da immer unbekannte Seiten.
Ich möchte aber auch behaupten, es gilt noch viel mehr für die Aussensicht. Egal wie gut man jemanden zu denken glaubt, egal wieviele Jahr man befreundet ist, für den Aussenstehenden ist der Kontakt mit einem Freund und seinem Partner immer der oberflächliche Kontakt mit einer geheimen Welt, über die sie kaum etwas wissen, in die sie keinen Zugang haben. Und egal, was man erfährt, es ist immer nur ein weiterer Bruchteil.
Ich habe mittlerweile gelernt (“the hard way”), das es von mir keine Bewertung mehr gibt, nur noch Rat. Genau wissend, das selbst dieser Rat notwendigerweise nur Produkt dessen ist, was ich sehe und deswegen am Ende unvollständig und mit Vermutungen durchsetzt. Nur: Ich habe auch gelernt, wie schnell man diese Trennung durchbricht, doch in der Schnelligkeit des Gesprächs Urteil in Rat einfliessen lässt. Es nicht zu tun, ist keine Indifferenz. Es ist ein Schutz davor, ungerecht zu werden, weil der Blick in die geheime Welt nur eingeschränkt ist.
Ich halte „Secret World“ für eines der besten Lieder von Peter Gabriel. Das ist vielleicht ein wenig vom „Secret World Live“-Konzert geprägt. Selbst 30 Jahre nach Erscheinen kann ich mir immer noch das Konzertvideo und das Album mit der gleichen Begeisterung hören.
Die Live-Choreographie ist einfach grossartig. Am Ende verlässt die Band zeitweilig die Bühne durch einen Koffer, der auf der Bühne steht. Für mich eine wunderbare Allegorie darauf, das wir irgendwann immer Teil jenes Koffers voller Erinnerungen werden, die wir mit uns tragen und in denen wir immer wieder gucken können. Aber auch, das wir Inhalt des Koffers von anderen Menschen sind.
Ich habe mich oft mit meinem Deutschlehrer über Interpretationen gestritten. Ich glaube er hält mich dafür bis heute für einen Idioten. Vielleicht ist meine Interpretation auch jetzt wieder völlig falsch. Aber es ist meine. Und damit ist es die Bedeutung, die ich diesem Lied zumesse, warum dieses Lied meine Seele erreicht. Und da ich keine Noten dafür bekomme, ist es auch egal, was andere darüber denken. Am Ende verbindet jeder Mensch eh etwas anderes mit einem Musikstück.
Dieser Text geht auch wieder übers Radfahren, es war genau jenes Lied das mir durch den Kopf ging, als ich heute morgen an einem Friedhof - der mir wegen der nahen Autobahn kaum als Ort der Ruhe erschien - vorbei auf einem Weg entlang der A7 fuhr. Ich weiss, das Lied hat nichts damit zu tun, aber so funktionieren Assoziationen nicht, die einen mit Musik im Kopf zurücklassen.
Es ist ein Ort den ich an sich gut kenne. Ich bin die A7 sehr oft gefahren. Nach Hannover, Frankfurt und weiter. Sie ist von Lüneburg aus oft zwangsläufig. Sie war von Harburg für mich noch zwangsläufiger.
A7 bei der Abfahrt Garlstorf
Ich war an dieser Stelle also häufig. Aber man sieht immer nur den kleinen Ausschnitt, den man von seinem Auto aus sieht, was sonst noch an diesem Ort ist, entzieht sich der Beobachtung. Und die notwendige Konzentration ein Auto bei mehr als 100 Stundenkilometer sicher zu führen, schränkt den Blick noch weiter ein. Ich bin diese Abfahrt sogar einige Male gefahren, wenn mir ein Stau den schnellsten Weg versperrte.
Wenn man näher guckt, findet man eben dann doch Orte. Eigentlich weder „geheim“ noch „lost“. Unbeobachtete Orte vielleicht, unentdeckt. Vor allen Dingen: Von mir unbeobachtet. Von mir unentdeckt. Denn die Spuren im Sand, die Spuren an der Seite sagen mir, das dieser Weg für andere Menschen Normalität ist. Vielleicht sind daher die Fahrten mit dem Rad hier in der Gegend Entdeckungsreisen für mich selbst in einer Gegend, die ich nun endgültig als meine Heimat empfinde.
Brücke bei der Abfahrt Garlstorf
Und so findet man unter der A7, auf der man schon dutzende wenn nicht hunderte Male lang gefahren ist, einen Weg aus Kopfsteinpflaster. Eine Brücke, die man nie als solche wahr genommen hat. Weil sie im Verlauf der Leitplanken einfach völlig untergeht. Weil die Konzentration der Auf— und Abfahrt gilt, die der monotonen Gleichförmigkeit des Verkehrs auf der Autobahn gleich erst einmal ein Ende setzen wird, weil Menschen sich in die gleiche Richtung aufmachen, zumindestens für eine kleine Weile.
Sus
Sus. Ich musste auch erst nachschlagen, was das bedeutet. Die Verwendung in einem Graffiti lies die mir bekannte Übersetzung „Schülerinnen und Schüler“ eher ferner liegen. Es bedeutet wohl „verdächtig“ oder „suspekt“. Ich vermute eine wortgewordene hochgezogene Augenbraue …
Es sind aber auch Dinge, die man im Wald entdeckt, am Wegesrand. Dinge, die ihre Bedeutung längst verloren haben. Wegmarken in Stein in einer Welt, in der Technik einen viel besser zu leiten vermag. Mitten im Wald. Auf einen Weg weisend, der mittlerweile eher zu einem Umweg einlädt als zu dessen Benutzung. Zumindestens mit dem Fahrrad, weil er so völlig unpassierbar erscheint.
Folgt man genügend Wegweisern kommt man Ende zu jenem Ziel, das man Erreichen wollte. In meinem Fall nach in einem sehr flachen Oval liegenden 65 km wieder an den Startpunkt der Fahrt. Die Fahrt war so nicht geplant. Aber an einem Punkt bin ich einfach weiter gefahren und habe mich auf meinen Orientierungssinn verlassen. Nicht das er mich nicht vor kurzem in die Irre geführt hat. Nicht an der Strasse lang, sondern artgerecht für das Fahrrad, artgerecht für mich quer durch den Wald, denn ich bin mittlerweile gerne hier, auch wenn mein Viel-Radfahren auf Strassen begonnen hat.
Sandweg bei Salzhausen
Es ist früh in Lüneburg als die nächsten beiden Photos entstehen. Sie entstanden vor den anderen Photos. Auf dem Weg aus der Stadt raus. Denn schon zwei Stunden später könnte ich hier nicht mehr in dieser Geschwindigkeit durch die Innenstadt fahren. Zuviele Menschen auf den Wegen. In vielen Läden sieht man schon Bewegung hinter den Schaufenstern. Aber auf den Strassen ist um halb sieben noch Ruhe. Die Stadt ist gerade erst im Begriff zu erwachen. Ich bin ganz froh darüber. Um die Zeit ist mir momentan nicht nach Menschen.
Vielleicht der beste Moment des Tages um Photos zu machen. Auch das ist in wenigen Stunden nicht mehr möglich, ohne andere Menschen auf dem Bild zu haben. Und Lüneburg zeigt hier wirklich seine schöne Seiten in diesen Momenten. So früh steht die Sonne noch relativ tief über dem Horizont. Die Steine glänzen ein bisschen im Sonnenlicht, glatt wohl durch die Abnutzung vieler Jahre.
Die Wegweise haben mich am Ende zurück nach Lüneburg geführt. Am Ende ist man dann wieder zu Hause, und die Welt ein kleines bisschen weniger unentdeckt. Shh, look.