2022

Hier sitze ich wieder auf meinem Sofa und sinniere über das letzte Jahr. Das Fernsehprogramm ist noch schlechter als sonst. Hinzu kommt, dass am heutigen Tag ein ehemaliger CEO eines seit vielen hunderten von Jahren bestehenden Unternehmens verstorben ist. Und man kann kein Fernsehprogramm einschalten, ohne das darüber berichtet wird. In epischer Breite. Nur weil wir mal Papst waren. Ich glaube, man sollte hier erkennen, dass ich Religion als Institution nicht allzu viel abgewinnen kann.

Für mich ist es irgendwie von größerer Bedeutung, dass in 2022 Maxi Jazz verstorben ist. Mir fiel es erst schwer einen Zugang zu “Reverence” zu finden, weil Insomnia einfach todgedudelt wurde. Das änderte sich später und Faithless war Begleiter in einer Vielzahl von Situationen so um die Jahrtausendwende, an die ich mich immer noch sehr gerne erinnere. So gesehen ist der Tod von Maxi Jazz für mich von größerer Fähigkeit Betroffenheit hervorzurufen, als jener des Papstes. God is a DJ. Not only for tonight.

John Lennon beschrieb in Beautiful Boy einmal, dass das Leben jene Merkwürdigkeit ist, die passiert, während man damit beschäftigt ist, andere Pläne zu machen. Man könnte jetzt wieder anmerken, dass das Zitat älter ist, aber das gehört zu jenen Dingen, mit denen man sich auf jeder Party unbeliebt macht. Ich sage da häufig, dass ich feste Ziele habe aber keine festen Pläne. Pläne sind für mich etwas Volatiles, ein Instrument Ziele zu erreichen, aber kein Selbstzweck. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass kein Plan am Ende so wirklich seinen Weg in die Realität findet, wie er am Anfang erdacht worden ist. Meine Familie ist so. Mein Bruder sagt immer “Irgendwas dreht sich immer” und er hat damit recht.

Die Welt ändert sich so schnell um einen herum und selbst meine kleine private Welt veränderte sich so unendlich schnell um mich herum. sowohl zum Guten als auch zum nicht so Guten. Dieses Jahr war so voller tiefgreifender Änderungen, dass ich als sehr anderer Mensch das Jahr verlasse, als das ich dieses Jahr betreten habe.

2021 war ein Jahr der extremen Gegensätze, eine Zäsur, ein Neubeginn. Was ist 2022? Ich würde sagen, es ist ein Jahr der Veränderung gewesen, ein Jahr des Lernens, ein Jahr der tieferen Einblicke in mich selbst. Ich bin in Bereiche von mir selbst vorgestoßen, die ich so nicht kannte.

Wobei Veränderung es vielleicht nicht so richtig beschreibt. Veränderung klingt so nach Nuancen, so ein wenig nach minimalen Veränderungen. Aber minimal war in diesem Jahr nichts. Nuancen waren in diesem Jahr nachgerade gargantueske Verschiebungen der Persönlichkeitstektonik. Auf den Kopf gestellt wäre vielleicht treffender. Selbst wenn man einen nur sehr rudimentären Anspruch an die Gültigkeit seiner Pläne hat, so ist dieses Jahr doch besonders darin gewesen, wie sehr dieses Jahr doch anders war.

Es ist so viel passiert in diesem Jahr, das ich nur einzelne Punkte herausgreifen kann. Ich will auch nicht alles in die Öffentlichkeit werfen. Ich erlaube mir eine gewisse Kryptik in dem, was ich schreibe.

Das Jahr fing so unfassbar großartig an. Ich fange da vielleicht mal damit an, dass ich einen Ort unfassbarer Schönheit gefunden habe. Einen Ort, so schön, dass er für mich zum Synonym für einen perfekten Moment geworden ist. Ein Ort, so zauberhaft, wie er dunkel war. Ein Ort der dunkler wurde, wenn man die Augen öffnete. Ich war einige Tage an diesem Ort und seitdem sehne ich mich dahin zurück. Seit dem dieser Moment zu Ende ist, möchte ich an den Ort zurück. Wäre ich nicht schon verliebt gewesen, es wäre dieser Ort gewesen. Das Gefühl angekommen zu sein, gefunden an einem Ort, den man bald wieder verlassen musste.

Der nächste Höhepunkt war kein Ort, es waren Menschen, die ich kennenlernen durfte. Letztes Jahr hat ein Mensch seinen in mein Leben gefunden, der seinen Weg in das “About me” meines Blogs gefunden hat. Jene Frau die gemein ist, wenn ich schreibe “I’m deeply in love with the greatest woman I ever knew.” Nun ist dieser Mensch aber nicht allein. Ich durfte im Verlauf des letzten Jahres vier weitere großartige Menschen kennen lernen. Menschen, die für mich sehr wichtig geworden sind. An deren Wohlergehen mir gelegen ist. Menschen, die ich vermisse, weil sie das andere Ende der Republik ihre Heimat nennen.

Zwei dieser Menschen haben mich im vergangenen Jahr besonders beeinflusst. Man denkt immer, dass man mit fast 50 ziemlich gefestigt ist, man recht genau weiss, wer man ist, wie man sich verhält. Könnt ihr vergessen. Das alles übersteht keinen Kontakt mit Kindern. Ich habe keine eigenen Kinder. Aber zwei wirklich großartige Kinder haben mir im Jahr 2021 neue Perspektiven auf die Welt gezeigt. Es sind die Kinder der “grestest woman I ever knew”. Haben mir neue Perspektiven auf mich selbst, auf die Welt um mich herum gezeigt. Einfach nur in dem sie da waren. Sie zeigen einem was wichtig und was bedeutungslos ist. Ich bin so unendlich dankbar für diese Erfahrungen des letzten Jahres. Ich bin dankbar für ein Geschenk, das diese beiden mir gemacht haben: Mich zu verändern. Und gleichzeitig fühlte sich bei so viel Veränderung vieles normaler und richtiger an, als es eigentlich hätte sein sollen. Es machte vieles einfacher, manches aber auch komplizierter.

Da sind nun zwei auf dem Weg in ihr Leben. Leider gehört zum Leben auch zwangsläufig das Gegenteil. Es ist eine Herausforderung einen geliebten Menschen dabei zu begleiten, wenn die Möglichkeit, dass dieser einen geliebten Menschen verlieren wird, nicht mehr nur eine ferne unwahrscheinliche Situation ist, sondern etwas das bittere Realität zu werden droht.

Nichts bereitet einen darauf vor. Wer glaubt, dass einen der Tod der Großeltern auf solche Dinge vorbereitet, irrt. Nicht einmal der Tod im Freundeskreis vermag da zu helfen. Man kann nur hoffen, nicht allzu viel falsch zu machen. Es zerbricht einem das Herz, den Menschen, den man liebt, leiden zu sehen. Es bleibt einem nur, sich zurückzunehmen und einfach da zu sein. Den Menschen zu begleiten auf den Wegen.

Aber ich merke, dass auch diese Situation mich im vergangenen Jahr verändert hat. Man nimmt es so sehr als Selbstverständlichkeit an, dass die eigenen Eltern am Leben sind. Sie haben einen so lange begleitet. Warum sollte ich das ändern. Aber mit jedem Jahr, das man älter wird, wird es zu einem größeren Geschenk, das man noch in der Lage ist, einen Dialog mit den Eltern zu führen.

Ich habe gemerkt, dass ich die Zeit mit meinen Eltern noch bewusster vergehen lasse. Versuche jede Kleinigkeit wahrzunehmen. Es wird einem viel klarer, das geliebte Menschen nicht immer da sein werde und egal was in der Vergangenheit war, es nun gilt, die Zeit zu nutzen. Es ist da unerheblich, was in der Vergangenheit war, es gilt nur die Zeit, die man noch hat mit diesem Menschen. Es bringt nichts, Groll zu hegen, wenn am Ende doch nur die Erinnerungen bleiben und man keine Gelegenheit mehr, hat diese zu korrigieren.

Ich habe dabei Fehler gemacht im letzten Jahr. Ich weiss das. Weil ich es nicht besser wusste. Vieles war neu für mich. Aber ich lerne. Ich verändere mich. Wie ich am Anfang geschrieben habe: Ich verlasse 2022 als ein in vielerlei Hinsicht veränderter Mensch.

2022 ist nun so gut wie zu Ende. Man kann 2023 schon sehen. Irgendwo hinter dem Horizont lauert schon das neue Jahr und dreht sich unaufhaltsam auf mich zu. Es erscheint alles möglich im nächsten Jahr.

Ich habe einige Ziele: Die Baustelle in meinem Blog endlich zu Ende bringen. Eigentlich ist die Artikelreihe über Performancetuning schon längst viel weiter geschrieben, als sie im Blog veröffentlicht ist. Warum ich nicht endlich die weiteren Teile veröffentlicht habe, weiss ich nicht einmal selbst. Angst vor der Veröffentlichung. Die Schere im Kopf. Dem nicht erreichbaren Ziel von Perfektion hinterherrennend? Früher habe ich Texte einfach rausgehauen, wenn ich damit fertig war. Heute ist das anders. Ein Ziel ist für mich daher: Das Begonnene endlich zu Ende führen.

Nachdem ich aus einer Vielzahl von Gründen, die wahrscheinlich alle für sich nicht so besonders wichtig waren, dieses Jahr nicht so viel auf dem Rad war, will ich dieses Jahr versuchen einen Kompromiss zwischen den langen Strecken des Jahres 2020 und der mangelnden Motivation des Jahres 2022 zu finden. Es sollen mehr als 5000 km werden, aber 20000 km wären zu viel. Möge dort im Jahr 2023 Vernunft in mich einkehren und ich nicht wieder von einem Extrem ins nächste Extrem fallen.

Andere Ziele sind für mich von tiefgreifender Natur: Entfernungen zu verkleinern, Fäden im Leben zu zerschneiden, deren Durchtrennen mein Leben einfacher machen wird.

Nächstes Jahr werde ich fünfzig. Wie meine Oma zu pflegen sagte: Das längste Stück vom Brot habe ich gehabt. Es lohnt sich nicht in Begrifflichkeit zu Denken wie „Man könnte ja mal machen“ oder „Man sollte dieses oder jenes tun“. Wenn etwas sich richtig anfühlt, machbar erscheint, sinnvoll ist, sollte man den Konjunktiv streichen. Zeit habe ich genug verschwendet mit Konjunktiven. Zeit habe ich genug verschwendet, mit Dingen die wichtig erschienen, es aber nicht sind. Ich werde weniger in Konjunktiven denken. Wo mich das hinführen wird, werde ich sehen.

Es ist leider jetzt schon zu beladen, als das ich sagen könnte, das es ein gutes Jahr wird. Aber es wird mich weiterbringen auf meinem Weg durch Leben. Zwangsläufig. Der Zeitstrahl geht halt nur in eine Richtung. < Wie ich 2023 nennen werde, weiss ich noch nicht. Aber dafür habe ich ja ein Jahr Zeit.